Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0455: Märchen = Horror


Jeder hat seine persönlichen Erinnerungen an den ersten Disney-Film. Bei mir war es „Robin Hood“. Keiner der typischen Prinzessinnen-Filme. Wir Europäer sind uns einige, dass es unerträglich ist, wie dieser amerikanische Filmverwurster unsere schönen Märchen in kitschige Musicals standardisiert. Na ja. Solange wir uns die Quellen nicht genau anschauen…

Download der Episode hier.
Opener: „DISNEY MEAN GIRLS: The Princess Burn Book“ von Rob Manion
Closer: „A #Disney Princess Rap“ von Alexandra Case
Musik: „Princes Princesses (2010)“ von JAMAOBY / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Es ist eine Standardklage in europäischen Feuilletons: Walt Disney nimmt unsere europäischen Märchen und verwurstet sie, um immer wieder das gleiche Musical zu erzählen. Schmucke Prinzessinnen leiden hilflos, bis der charmante Prinz sie befreit. Und dann der Höhepunkt des Lebens folgt. Die Hochzeit.

Klar hat das bei Scheidungsquoten um die 50% wohl kaum noch etwas mit der Realität zu tun. Und klar auch nicht mehr etwas mit dem Status der Frau im 21. Jahrhundert. Logisch. Zugegeben.

Aber wie dankbar bin ich dafür, dass wir unsere Kinder nicht wirklich unserem europäischen Horror aussetzen. Denn das wären die Geschichten alle nach heutigem Standard. Vielen Dank, Walt Disney, für spontan singende Kerzenleuchter, Heuschrecken oder Krebse. Und für das Happy End! Danke, unsere Kindheit nicht in den Little Shop of Horrormovies verwandelt zu haben.

Glaubt ihr nicht? Dann hier einige Beispiele.

Arielle
Auch „Die kleine Meerjungfrau“. Das mit der Meerjungfrau, die sich in einen Menschenmann verliebt und dann heiratet. Trotz der bösen, magischen Ursula. Happy End. Im Original eine Parabel darauf, dass man nicht sein kann, wozu man nicht geboren ist. Denn bei Hans Christian Andersen erzählt sich das anders. Klar, die Meerjungfrau verliebt sich in einen Zweibeiner männlicher Ausprägung. Und kriegt auch magischerweise zwei Beine statt eines Fischschwanzes. Aber in unserem europäischen Original ist der Angebetete wohl etwas überfordert. Und nimmt sich einfach eine andere. Sorry, Rollmöpschen! Jetzt bleiben ihr zwei Möglichkeiten: Entweder sie bringt ihr love interest um die Ecke und kriegt dann ihre Delphin-Unterhälfte wieder. Oder sie stürzt sich selbsmörderisch mit ihren komischen Menschenbeinen ins Meer. Um dann zu Gischt zu werden. Zum Schaum auf den Wellen. Das macht sie dann auch. Alles für die Katz. Für den Hecht. Oder Krebs…
Horror-Grad in Psychotherapiesitzungen für kindliche Betrachter: ca. 50

Dornröschen
Eine böse Fee, im Film eben Maleficent, verflucht die kleine Prinzessin. Kaum erreicht sie die Geschlechtsreife sticht sie sich an einer Spindel und schläft 100 Jahre. Bis sie der Prinz wachküßt. Und heiratet. Happy End. Im Original von Giovanni Battista Basile unter dem Namen „Sonne, Mond und Talia“ in Europa veröffentlicht. Kind eines Fürsten ist die Thalia da. Weise Männer prophezeien dort den ganzen Mist um die Spindel. Und als es dann soweit ist, läßt der Fürst seine Tochter einfach weiterschnarchen und das Schloss mit seiner Tochter menschenleer zurück. Doch dann kommt irgendwann ein König aus einem fernen Land und findet die wunderschöne Fürstentochter. Schlafend. Gute Gelegenheit, denkt sich der Potentat, und vergewaltigt die schlafende Schönheit mehrmals. Klar. Neun Monate später wird diese dann von den Presswehen geweckt und hat nun, hundert Jahre später zwei Kinder. Das erfährt die Angetraute eben jenes Vergewaltigers und lässt die Kinder entführen. Und schlachten. Und in ein Abendmahl für ihren untreuen König verwandeln. Doch der riecht den Braten – oh, sorry. Das war geschmacklos. Und lässt seine Frau als Hexe verbrennen. Und heiratet dann tatsächlich sein Vergewaltigungsopfer. Klingt nach vielen Sitzungen beim Paartherapeuten. Und auch bei den Kindern, die sich das als Zeichentrick anschauen müssen.
Horror-Grad in Psychotherapiesitzungen für kindliche Betrachter: ca. 75

Der Glöckner von Notredame
Bei Disney hilft der verkrüppelte Glöckner Esmeralda und ihrem Angebeteten gegen den bösen Claude Frollo. Der den Bösewicht-Tod stirbt. Esmeralda und der blonde Soldat namens Phoebus heiraten und alle bleiben für immer die besten Freunde. Happy End. So hat das Victor Hugo aber nicht geschrieben. Klar, der Bucklige und die Zigeunerin lernen sich kennen. Und respektieren. Sie entscheidet sich aber dann für jemand ganz anderen. Ist für die Geschichte auch nicht wichtig. Und verschwindet. Bis es zu einem öffentlichen Verfahren gegen sie kommt. Wegen versuchten Mords. Auftritt des Monsters, das die Zigeunerin – habe ich das schon erwähnt – schnappt und im Chorraum der Kirche versteckt. Eigentlich also Kirchenasyl gewährt. Aber eben jener Claude Frollo – im Buch noch fieser als im Film – verkauft sie. Für ein paar Silberfrancs. Und dann wird Esmeralda öffentlich gehängt. Baumel, baumel. Tot. Aus. Äpfel. Amen. Quasimodo schleicht in ihre Gruft und bleibt solange im Grab liegen, bis er auch stirbt. Als man das nach 18 Monaten entdeckt und den Mann mit der Skoliose aus dem Grab entfernen möchte, zerfällt sein Skelett zu Staub. Wenn das kein schöner Popcornfilm ist, um ihn mit Vorschülern anzuschauen!
Horror-Grad in Psychotherapiesitzungen für kindliche Betrachter: ca. 85

Aschenputtel
Das erkläre ich mal nicht. Das Muster ist ja klar. Hochzeit. Happy End. Also gleich zum Original der Brüder Grimm. Papa Puttel stirbt gar nicht. Er heiratet nur und lässt seine neue Flamme und deren Tochter die eigene Tochter schikanieren. Er bringt seinen Stieftöchtern teure Geschenk und Aschenputtel: Einen Ast. Danke, Dad, was für ein schöner… Ast. Dann taucht er nicht mehr in der Geschichte auf. Denn Ast pflanzt diese in die noch feuchte Erde des Grabs ihrer Mutter und weint bittere Tränen. Ein großer Baum wächst im Lauf der Jahre daraus. Weiße Vögel wohnen darin und gewähren der Haushalts-Sklavin Wünsche. So kommt sie auf den Ball und die Geschichte mit dem Schuh fängt an. Als der Prinz diesen Schuh den Stieftöchtern anprobieren will, schneiden diese sich die Zehen und Fersen ab. Aber passen immer noch nicht in den Schuh. Blutige Sache, nehme ich ‘mal an. Aber das stört Aschenputtel nicht und sie schlüpft in den blutigen Schuh. Passt angegossen. Eine Hochzeit folgt. Klar. Hier, wie bei Disney. Bloß, bei den Brüdern Grimm stürzen sich dann die Vögel aus dem Baum – während der Hochzeit – auf die Stiefschwestern ohne Zehen und Fersen und hacken ihnen auch noch die Augen aus. War eine tolle Feier, kann man sich vorstellen. Hübsche Fotos, nette Selfies, Erinnerungen für die Ewigkeit!
Horror-Grad in Psychotherapiesitzungen für kindliche Betrachter: ca. 95

Rapunzel
Heißt bei Disney „Tangled“ und man muss schon sagen, dass diese Rapunzel keine klassische Prinzessin mehr ist. Und über den Prinz müssen wir gar nicht reden, der ist mehr so wie Aladdin. Trotzdem: Heirat und Happy End.
Aber mit unseren ehrenhaften europäischen Quellen hat das wieder nichts zu tun.
Bei den Brüdern Grimm entdeckt der Prinz das mit dem Turm und kommt öfter mal abends vorbei. Keine Ahnung, was die das Nacht für Nacht so machen genau, aber als Rapunzel schwanger ist, muss ein Fluchtplan her. Aber die Hexe kriegt das mit. Und sorgt erst einmal für einen modernen Kurzhaarschnitt für Rapunzel, bevor sie sie in die Slums verstösst. Der Prinz fällt aber aus Geilheit wie immer auf den meterlangen blonden Zopf herein. Um dann vom Turm gestoßen zu werden. In einen Dornbusch. Wo er die Augen ausgestochen bekommt und – logischerweise – erblindet. So führt er das Leben eines Krüppels und wandert blind herum. Bis er die Stimme seiner Kinder hört – Zwillinge, wie das in den Märchen oft so ist – was dazu führt, dass ihm magisch die Augäpfel wieder wachsen. Könnte eine schöne Slo-Mo werden, wenn das passiert. Wie sich die leeren Augenhöhlen wieder füllen!
Horror-Grad in Psychotherapiesitzungen für kindliche Betrachter: ca. 65

Aber hören wir auf, mir ist bereits ein bisschen übel. Im Kurzverfahren noch der Froschkönig: Der wird nicht zum Prinzen, indem man ihn küsst. Nein, je nach Quelle muss man ihn an der Wand zu Froschbrei klopfen oder ihn köpfen oder aber lebendig braten. Wie wir das in Europa halt so machen.

Oder das Gewissen von Pinocchio. Jiminy Cricket, das einzige, was selbst in der romantischen Disney-Version einem Vorschüler keine Angst macht. Bei Carlo Collodi macht die nur einmal den Fehler, der Holzpuppe gute Ratschläge zu geben. Dann wird sie von Pinocchio zu Heuschreckenmatsch zertreten.

Vielen Dank, liebe Disneys, unser Leben so herrlich verkitscht zu haben. Wir können unsere europäischen Wurzeln selber nicht mehr ertragen. Es war der wahre Horror hier. Bevor Walt Disney für uns und unsere Töchter die Farbe Pink erfunden hat.


fyyd: Podcast Search Engine
share








 June 2, 2016  14m