Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0458: Der Werteverfall


Seit es Zivilisation gibt, sorgen sich besorgte Gemüter schon über den Verfall der Werte. Nach achttausend Jahren chronischen Werteverfalls stehen wir aber gar nicht schlecht da, oder? Zeit also, diesen Begriff ‘mal auf den Prüfstand zu stellen.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: By Seattle Municipal Archives from Seattle, WA – W.H. Shumard family, circa 1955Uploaded by cptnono, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8711910
Opener: „Sesame Street: Family Song“ von Sesame Street
Closer: „George Carlin Kids & Parents“ von Renew96055
Musik: „Family (2009)“ von GRANT SIEDLE / CC BY-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Irgendwie hat die ganze Aufmerksamkeit, die die AfD so generiert, dazu geführt, dass überall wieder die reaktionärsten Dinge ohne Widerspruch gesagt werden können. Und schon ist auch ein alter Bekannter wieder da. Der Werteverfall. Unsere Gesellschaft verliert ihre Werte.

Das ist natürlich keine nüchterne Feststellung, sondern meist eine apokalyptische Diagnose. Der Begriff „Verfall“ ist ja kein positiver. Da steckt die Theorie der Dekadenz dahinter, die ja schon vor hundert Jahren höchst populär war. Und nicht die unwichtigste Kraft war hinter einer Bewegung zurück zu alten Werten, die uns das Dritte Reich bescherte.

Das ist kein Wunder, denn dieser Begriff entstammt der französischen Aufklärung. Dekadénce ist eigentlich das französische Wort für Verfall. Egal ob Rousseau oder Montesquieau, Nietzsche, Thomas Mann oder Oswald Spengler: Allen war das ein wichtiger Begriff. Die Idee stammt vielleicht aus der Naturbeobachtung. Dinge wachsen, blühen, verwelken und Sterben.

Wenn das auf Pflanzen, Tiere und jeden einzelnen Menschen zutrifft, dann wird das auch bei ganzen Gesellschaften so sein. Am liebsten wurde das am Römischen Reich bewiesen. Wie es die eigentlichen guten Werte der Republik aufgegeben hat. Und die Politik immer obszöner wurde. Soldaten zu Kaisern wurden. Und die Orgien. Und die Nachtigallenzungen. Das konnte ja nur ein böses Ende nehmen.

Und diese Überlegung übertragen dann sie oben genannten Philosophen und Autoren auf die Moderne und suchen nach Parallelen. Und sammeln so Indizien dafür, dass auch wir dem Untergang geweiht sind.

In der modernen Geschichtsschreibung hat diese Vorstellung spätestens seit 1980 eigentlich keinen Platz mehr. Das ganze Epochenmodell, dass wir alle noch brav in der Schule gelernt haben, ist an und für sich nur ein Sortierungsinstrument. Um ein bisschen Ordnung in die Geschichte zu bringen. Aber das macht halt nur im Rückblick Sinn.

Auf jeden Fall sollte man aber nie vergessen, dass es eine künstliche Gliederung ist. In Wirklichkeit ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation von kontinuierlicher Änderung geprägt. Das Römische Reich zum Beispiel ist nicht untergegangen, weil die Kaiser oder die Bürger so dekadent waren. Nicht Nachtigallenzungen waren das Ende, sondern eine Überdehnung. Und dem Wunsch auf neue Probleme alte Lösungen zu finden.

Denn genauso könnte man sagen, es ist nie untergegangen. Unsere Kultur in Westeuropa ist immer noch geprägt vom Römischen Reich. Im Christentum haben wir viel römisches Gedankengut bewahrt. Und bis vor 200 Jahren hatten wir ja auch noch ein Heiliges Römisches Reich. Deutscher Nation halt, zugegeben. Ich habe fünf Jahre Latein gehabt an der Schule. Und es hat mir nicht geschadet. (kichert irre)

Dann bliebe natürlich noch die Frage, welche Werte es denn sind, die verfallen. Zuvorderst höre zumindest ich immer: Die Familie. Das müssen wir genauer anhören. Familie kann an sich kein Wert sein, wie Zahnbürste eben auch nicht. Das Zusammenleben der Familie, die Familienstruktur, überhaupt eine Familie haben zu wollen. Das ist gemeint, höre ich dann als Antwort.

Es wird wohl die gute, alte patriarchalische Kleinfamilie gemeint sein. Mama, Papa, zwei Kinder und ein Hund. Mit einer Ehe die ewig hält noch oben drauf. Das war doch ‘was. Und das geht jetzt kaputt.

Und da zeigt sich das Problem in seiner ganzen Schönheit. Denn diese Familie, wie sie so in Wüstenrot-Werbeclips auftaucht, die ist ja eine recht neue Erfindung. Vorher waren Großfamilien die Regel, aber das würde man heute ja lieber nicht haben wollen. Es ist heute für alle klar: Kinder müssen von zu Hause ausziehen. Das ist natürlich und normal. Aber erst seit ein paar hundert Jahren. Vorher war das Gegenteil die Regel.

Trotzdem ist die Kleinfamilie aber statistisch immer noch die Lebensform, die die meisten Menschen hier anstreben. Auch wenn diese Struktur für viele Frauen immer noch eine Riesen-Einschränkung ist. Man kann diesen Wert leben, wenn man möchte.

Aber er ist nicht mehr gesellschaftlicher Zwang. Und es müssen auch nicht immer nur Männlein und Weiblein sein. Und man Kinder adoptieren. Oder man lässt sich scheiden und ist dann trotzdem keine gesellschaftlicher Sonderling.

Wir könnten mit weiteren Werten fortfahren, zum Beispiel den sogenannten christlichen Werten. Denen habe ich schon einmal eine Folge gewidmet, die gibt es nämlich auch nicht. Die zehn Gebote sind nicht christlich, sondern jüdisch. Und eben Gesetze und keine Werte. Auch die Nächstenliebe ist kein Wert, sondern an Gefühl. Wenn gefühllos = wertlos wäre, dann hätte es die Finanzkrise 2008 wohl kaum gegeben.

Es gibt keinen Werteverfall in unserer Gesellschaft. Es ist eher so, dass es einen Werteboom gibt. In meiner Kindheit zum Beispiel gab es in meinem Wirkungsbereich einmal eine Familie, die Besuch bekommen hat von einem Afrikaner. Einem Schwarzen. Einem Neger, wie wir damals ohne schlechtes Gewissen sagten.

Jetzt leben viel mehr Schwarze in unseren Städten. Und man lernt sich kennen. Und dann einigt man sich darauf, das Neger nicht das Wort ist, dass diese Menschen gerne hören. Also ist Pippi Langstrumpfs Vater eben kein Negerkönig von Taka Tuka mehr.

Das ist in Ordnung. Die Gesellschaft ist bunter geworden und vielfältiger. Viele Lebensmodelle stehen nebeneinander. Viele Gruppen und viele Möglichkeiten Identifikation zu finden. Und jede dieser Gruppen hat eigene Werte, die sie verbinden. Die stehen dann neben den anderen Werten.

Die Kleinfamilie von früher war halt ein Muss. Heute gibt es mehr ein „Alles kann.“ als „Eines Muss“. Aber das ist in Ordnung so und Zeichen des Wandels. Wer über einen Werteverfall klagt, meint vielleicht: Meine Werte sind nicht mehr so wichtig. Das stimmt wahrscheinlich.

Aber es kann gut sein, dass er meint: Mir ist das alles zu viel. Das Neue macht mir Angst. Das Fremde auch. Ich will es wieder so haben, wie es war. Und selbst das ist eine Position, die man einnehmen kann. Über das „Wie es war“ müssen wir dann halt diskutieren. Denn meistens war es nicht so toll wie angenommen.

Und als letztes Versöhnungsangebot: Es gibt tatsächlich ein Problem mit dem Boom an Werten. Wir müssen die natürlich schon so organisieren, dass da noch eine Klammer bleibt, die uns verbindet. Tatsächlich müssen wir als Gesellschaft einige Werte haben, die unverrückbar sind. Zugegeben.

Und das haben wir ja auch. Die sind im Grundgesetz verborgen. Das im Geiste in einer langen Liste von Verfassungen steht, die auf den allgemeinen Menschenrechten beruhen. Eine Vorstellung, sogar größer ist als die viel zitierten christlichen Werte. Wir denken, die Menschenrechte sind universell, unteilbar und für jeden Menschen gültig. Das glauben wir. Daran sollten wir festhalten.

Und da stehen auch andere tolle Sachen drin. Wie z.B. Rechtstaatlichkeit, Religionsfreiheit oder Pressefreiheit, Gleichberechtigung der Frau, Abschaffung der Todesstrafe und das Recht auf Asyl.

Das sind streng genommen auch keine Werte, sondern eben Rechte. Dann machen wir halt Verfassungstreue zu einem Wert. Auf den wir uns alle einigen können. Das muss. Alles andere kann.

Seit Anbeginn der Zivilisation klagen Konservative über den Werteverfall. Ich finde, 8000 Jahre Werteverfall waren bisher eigentlich soweit ganz gut. Geht uns doch ganz gut ohne Menschenopfer, Sklaverei, Todestrafe, Sippenhaft und Ehrenmord, oder?


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 June 7, 2016  14m