Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0459: Der Kolumbus-Effekt


Nicht nur als Hobbykoch geht mir oft der Gedanke durch den Kopf, was wohl aus Europa geworden wäre, hätte es Amerika nie gegeben. In den Jahren nach seiner „Entdeckung“ hat sich die Welt zutiefst verändert. Weil wir das aber gewohnt sind, macht man sich das selten klar.

Download der Episode hier.
Opener: „Columbian Exchange“ von Shmoop
Closer: „What Have The Romans… – Monty Python’s Life of Brian“ von Monty Python
Musik: „AMERICA“ von ARNODIDACT / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ich wollte schon lange etwas zum Thema Globalisierung senden. Weil das Thema so vielen Menschen Angst macht. Dabei stellt sich natürlich unter anderem die Frage, wann hat das denn so richtig angefangen?

Klar, bei den Wikingern findet man griechische Tonwaren und Bernstein in Phönizien. Die Handelsverbindungen waren schon in der Antike vielfältig. Die Seidenstraße ist uralt. Aber sie haben nicht ganze Kulturen verändert und nicht ganze Landstriche auf Dauer ökologisch über den Haufen geworfen.

Dann folgt als nächster Verdächtiger Kolumbus. Also nicht der Mann selber. Das wir den lieber nicht feiern sollten, habe ich ja schon in Sendung 304 erläutert. Aber der Kolumbus-Effekt, das deutsche Äquivalent zum „Columbian Exchange“. Und der heißt eben nach diesem Mann, der 1492 die Bahamas entdeckt hat.

In nur wenigen Jahrhunderten änderte der Austausch zwischen den beiden Kontinenten die Welt so grundlegend, wie nichts anderes davor. Nicht einmal die Völkerwanderung oder die Pest oder der Zweite Weltkrieg.

Bevor die Europäer in Amerika ankamen, war alles heile Welt. Menschenleere Kontinente, friedliche Natur. Homo sapiens im Einklang mit der Schöpfung. Indios spielen Panflöte, Indianer weben hübsche Muster. So stellen wir uns das gerne vor. Aber so war das natürlich nicht.

Moderne Schätzungen gehen von mindestens 50 Millionen Menschen aus, die hier wohnten. Das sind ungefähr so viele wie in Europa um diese Zeit auch. Und die meisten davon in Hochkulturen. Der Süden, aber auch große Teile des Nordens waren von städtischer Kultur geprägt. Z.B. das ganze Mississippi-Tal, aber auch Teile Kanadas.

Land- und Ackerbau war nötig, um diese Masse Menschen zu versorgen. Mindestens 30% des Amazonas z.B. ist nicht wirklich Dschungel gewesen, sondern von Menschenhand kultiviert. Und die Entforstung weiter Gebiete in Nordamerika geht auch auf die indigene Bevölkerung zurück.

Primitiv waren diese Wilden nicht. Und wild schon gar nicht. Allerdings auch nicht friedlich oder in Harmonie mit der Natur. Das ist genauso ein Mythos wie der lange gehegte vom menschenleere Amerika. Das haben wir noch 1950 so geglaubt, wahrscheinlich damit die schlimmste demographische Katastrophe der Weltgeschichte nicht gar so gruselig klingt.

Innerhalb von 200 Jahren waren nämlich 90% dieser Bevölkerung weg. 90%! Schuld waren nicht nur Monster wie Pizarro oder Cortez. Oder die vielen kriegerischen Konflikte, die noch bis in das 20te Jahrhundert nicht ausgefochten waren. Am ehesten schuld sind Mikroben, Bakterien und Viren, die Europäer mitgebracht hatten.

Während in Europa die Zivilisationen schon immer durch schlimme Pandemien durcheinander gewirbelt wurden, gab es das in Amerika nicht. Keine Seuchen, keine Epidemien. Bis auf eine Ausnahme.

Wir haben Tuberkulose, Influenza, Cholera, Beulenpest, Pocken, Gelbfieber, Masern und die Malaria exportiert und im Tausch dafür die Syphilis aus Amerika mitgebracht. Durch den Handel der Indianer und Indios untereinander waren die Erreger oft schneller als die Europäer.

Schon nach hundert Jahren waren deshalb die Sklaven ausgegangen und es begann der transatlantische Sklavenhandel, über den die Sendung 445 berichtete. Der nicht nur Amerika, sondern auch Afrika für immer veränderte.

Aber außer Viren, Parasiten und Bakterien haben wir natürlich noch ganz andere Dinge nach Amerika mitgebracht. Die es da nicht gab. Hunde, Esel, Ziegen, Schafe und Rinder natürlich. Schweine, Pferde und die Honigbiene eroberten ihre neuen ökologischen Nischen völlig und verdrängten als Wildformen die heimischen Arten zum Teil komplett.

Ja, die Mustangs, auf die Winnetou und seine Apatschen reiten, sind verwildeter Import. Die großen Stämme der Prärie-Indianer konnten erst dann effizient Jagd auf die Bisons machen, als die Europäer da waren. Vorher lebten die noch nicht nomadisch. Ach, und der tolle, bunte Schmuck: Europäische Glasperlen, die für Felle getauscht wurden.

Aber nicht nur Felle waren wichtig, sondern auch das Holz. Der Mittlere Westen und der Osten Amerikas waren komplett bewaldet, bevor die Europäer da waren. Denn in Europa war ja schon längst alles abgeholzt. Und da waren auch die Flüsse leergefischt, weswegen auch Fisch und Fleisch bald ein Exportschlager der neuen Mieter wurden.

Und dann all’ die Früchte, die es nur hier gab! Mais und Kartoffeln waren in Europa schnell so wichtig, dass sie zu einer Bevölkerungsexplosion führte. Ganze Länder, Irland oder Italien z.B., waren in ein paar Jahrhunderten vollkommen davon abhängig. Die einen von der Kartoffel, die anderen vom Mais. Aber da wären noch einige Pflanzen, von denen viele Menschen noch nicht einmal wissen, dass sie aus Amerika stammen!

Z.B. Erdnüsse, Tomaten, Kürbisse, Ananas, Papayas, Avocados, Kakao, Paprika, Süßkartoffel, Vanille oder der böse Tabak. Ja, keine hässlichen Fotos auf Zigarettenschachteln ohne den Kolumbus-Effekt. Dafür haben wir den Indianern und Indios den Alkohol gebracht. Ist schließlich auch scheisse.

Und Getreide, wie Weizen oder Reis. Und Rüben, Zwiebeln, Kohl, Trauben, Kopfsalat oder aber das Zuckerrohr. Das in der Neuen Welt prächtig wuchs und bald neben Tabak und Kaffee – letzeres übrigens ein Import aus Asien – für die amerikanischen Staaten zum wichtigsten Exportgut wurde.

Und dann vergessen wir nicht die wichtigste Folge. Weil das alles, was jetzt aufgezählt wurde, irgendwie transportiert werden musste und in alle Welt verschifft – nach Asien, Afrika, Europa – steht der Kolumbus-Effekt auch für den Beginn des Welthandels.

Denn für Europa war das der letzte Ausweg. Abgeholzt, leergefischt und überbevölkert. Und dann kam erst noch eine Krise aus Amerika. Denn der wirklich wichtigste Exportartikel war in den ersten Jahren ein ganz Anderer: Gold. Und Silber.

Soviel dieser Edelmetalle wurden gierig nach Europa geschippert, dass hier nachhaltig die Wirtschaft kollabierte. Diesen Effekt nennt man die Preisrevolution. Die China genauso traf wie Europa. Weil Geld damals gleich Gold war und plötzlich im Übermaß da, war es bald auch nichts mehr wert. Zwischen 1520 und 1570 verdoppelten sich in Europa die Preise für Gewerbeerzeugnisse. Lebensmittel stiegen 160% im Preis und Getreide gar 270%.

Das traf die Bauern, Handwerker und allgemein die Festangestellten besonders hart. Wir würden heute sagen: Die soziale Schere öffnete sich zu weit. Was zu großen Unruhen in Europa führte. Die Reformation, die Bauernkriege, selbst der Dreißigjährige Krieg oder der Untergang der Ming-Dynastie machen erst vor diesem Hintergrund komplett Sinn.

Spanien, Frankreich und die Niederlande verzockten sich bei ihren überseeischen Spekulationen so drastisch, dass sie den Bankrott erklären mussten. Aber auch große europäische Bankhäuser, wie z.B. die Welser in Augsburg, gingen pleite. Hunger und Armut waren die Folge. Also wanderten die Europäer und Chinesen zu Millionen und Abermillionen aus. In die Neue Welt.

Die Welt veränderte seit 1492 ihr Gesicht in einem rasanten Tempo. Amerika, Europa, Afrika und Asien waren auf einmal fest verzahnt. Händler wurden reicher und wichtiger als der Adel, dessen Niedergang damit auf Dauer nicht mehr aufhaltbar war.

Der Beginn der Globalisierung, wie wir sie heute wirtschaftlich verstehen, war die Entdeckung Amerikas. Und seine Folgen sind völlig irreversibel. Das ist ja auch o.k., oder? Ohne den Kolumbus-Effekt gäbe es keinen Kautschuk in Afrika, kein Steak in Argentinien, keine Schokolade aus der Schweiz und keine Tomatensauce auf der Pizza.

Das wäre allerdings eine echte Tragödie, oder?


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 June 8, 2016  13m