Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0463: Zwangsstörungen


Die Wahrscheinlichkeit, jemanden mit Zwangsstörungen zu kennen, ist recht groß. Aber in den meisten Fällen verstecken sich die Betroffenen. Dabei muss das nicht sein, wenn alle nur ein bisschhen besser Bescheid wüssten.

Download der Episode hier.
Opener: „Monk – Monk’s Phobias (Paley Center)“ von The Paley Center for Media
Closer: „MR. MONK AND THE COMPUTER“ von MrKage3000
Musik: „How Far“ von Jamison Young / CC BY 3.0

+Skript zur Sendung
Mögt ihr Krimis? Ist nämlich eigentlich irgendwie nicht so mein Bier. Bizarre Morde, verdrehte Leichen und ach so schlaue Kommissare und Detektive. Bald hat dann jede Serie ein Muster entwickelt, dass sich ritualisiert wiederholt. Tatort? Nein, danke. Aber es gibt zwei Ausnahmen.

Das wäre natürlich Columbo, denn der begleitetete mich schon durch die Kindheit. Einer der wenigen Krimis, die ich als Kind schon kucken durfte. Wenn mir da auch die Feinheiten der kleinen Psychotricks des zerknitterten Detektivs wohl entgangen sind. Und, ganz ähnlich: Monk.

Tony Shalhoub spielt in dieser Serie einen Ex-Cop, der schwer mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Die nennt man im Amerikanischen OCD. Für „obsessive compulsive disorder“. Deutsche Psychiater würden das eine Zwangsstörung nennen.

Im Fernsehen war das irgendwie ja meistens drollig, wie Monk jede Parkuhr berühren musste, nicht auf die Linien zwischen den Bürgersteigplatten treten konnte, alles rechtwinklig arrangieren musste und vor jeglicher Berührung Angst hatte. Wegen Keimen. Eine Schwäche, die ihn irgendwie sympathisch machte. Mehr auch nicht.

Die Zwangsstörung im echten Leben ist ein bisschen grausamer. Da können das zum einen Gedanken sein, die sich immer wieder aufdrängen oder eben ritualisierte Handlungen. Oder beides. Der Waschzwang ist dabei wohl das populärste Beispiel.

Ich z.B. habe ja, wie schon öfter erwähnt, ein Problem mit meiner Herdplatte. Als ich vor drei Jahren ‘mal vergessen habe, sie auszuschalten, kam ich in eine richtig heiße Wohnung zurück. Die Platte und die Nebenplatten leuchteten feuerrot. Das Geschirrtuch, das in der Nähe hing, hatte schon begonnen, sich zu verfärben.

Seitdem muss ich fast jedes Mal, bevor ich das Haus verlasse, unbedingt die Herdplatte prüfen. Meine Freundin zieht mich damit auf. Wenn ich’s vergessen habe, sagt’s sie es süffisant im Treppenhaus. Und dann muss ich zurück und nachkucken.

Aber das war’s dann. Wenn alles auf Aus steht, dann bin ich beruhigt und das Thema ist abgehakt. Ein Schalter im Hirn ist umgelegt. Bei Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden, funktioniert dieser Schalter nicht. Die können dann mit dem Nachprüfen der Herdplatte Stunden verbringen.

Auch der berühmte Waschzwang ist ja irrational. Einmaliges Händewaschen wird wohl genauso gut gegen Bakterien wirken, wie zwei-dutzend-faches. Sagt einem der Menschenverstand. Der auch bei Menschen mit Zwangsstörung funktioniert. Das Grausame ist ja, dass auch diesen völlig klar ist, dass ihr Tun unnötig ist. Aber nur durch das Wiederholen entsteht irgendwann ein Effekt, der so ähnlich beruhigend ist, wie der Schalter im Hirn des Durchschnittsmenschen.

Aber außer Zwangshandlungen, wie in all’ den populären Beispielen gibt es auch Zwangsgedanken. Die können sich um vieles drehen. Am häufigsten sind – in der Reihenfolge – folgende Themen: Schmutz oder Verseuchung, Gewalt und Aggression, die liebe Ordnung, Religion oder Magie und die Sexualität.

Es sind dies oft unbegründete Befürchtungen, endloses Grübeln, die Unfähigkeit auch nur die trivialsten Entscheidungen des Alltags zu treffen, oder plötzliche unerwünschte Vorstellungen – „Gerade habe ich jemanden mit dem Auto überfahren“ oder aggressive oder sexuelle Impulse. Zum Beispiel der Wunsch, das eigene Baby zu erdrosseln.

Und diese Gedanken gehen dann einfach nicht weg. Diese Menschen wissen, dass das irrational ist und unsinnig. Gegebenenfalls abstoßend oder ihnen völlig fremd, aber das hilft ihnen nicht. Es sind ihre Gedanken – nicht wie bei Schizophrenen Gedanken, die von außerhalb kommen – aber trotzdem bleiben sie in einer Spirale gefangen.

Und wenn Ignorieren oder Ablenkung nie helfen, dann kann es manchmal eine bestimmte Tätigkeit halt doch. Das Zählen von Parkuhren ist eine Aufgabe, die vielleicht Erleichterung bringt oder Ablenkung. Es ist sozusagen Magisches Denken, das aus dem Ruder gelaufen ist.
Das ist der Grund, warum oft bei den Betroffenen beides entwickelt ist, also Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.

In Deutschland machen immerhin 2 – 3 % der Menschen einmal so eine Erkrankung durch. Vielleicht aber auch mehr. Wenn diese Zwänge mehr als eine Stunde am Tag beanspruchen, dann reicht das für eine Diagnose. Aber unbehandelt kann es vorkommen, dass sich das über viele, viele Stunden des Tages streckt. Es kann sein, dass man seinen Job verliert und seine Familie. Oder nie mehr die Wohnung verlassen kann. Alles das kann geschehen und doch weiß der Betroffene, dass das völlig irrational ist. Dass das Zählen der Parkuhren überhaupt keinen Sinn hat, z.B.

Woher Zwangsstörungen kommen, das wissen wir nicht ganz genau. Es gibt mehrere Theorien. Die eine besagt, dass bei Betroffenen der Serotonin-Haushalt gestört ist. Eine andere Therie verdächtigt das Dopamin, dass nicht richtig verteilt wird. Und die dritte organische Ursache könnten Funktionsstörungen im Hirn sein, speziell im präfrontalen Kortex. Eine recht neue Studie weist auf einen eventuellen Zusammenhang mit Streptokokken-Infektionen in der Kindheit hin.

Psychische Ursachen lassen sich aber genauso belegen. Eine übertriebene Sauberkeitserziehung oder eine streng fundamentalistisch religiöse z.B. Starker psychischer Stress kann ein Auslöser sein, so wie z.B. bei Adrian Monk. Es besteht auch ein Zusammenhang zu einer depressiven Grundstimmung einiger Betroffenen.

Und natürlich gibt es, wie immer, die Genetik. Eine gewissen Anfälligkeit dafür, dass dieser Schalter im Gehirn nicht mehr richtig umkippt, wird wohl auch vererbt.

Nichts davon ist völlig unplausibel und es deutet vieles darauf hin, dass die Auslöser und die Ursachen von Fall zu Fall sehr verschieden sein können. Das ist aber vielleicht auch nicht so wichtig wie die Frage, ob man dagegen etwas unternehmen kann.

Und das kann man durchaus. Nicht in jedem Fall, aber doch in vielen. Zum einen gibt es Medikamente, die Erleichterung bringen können. SSRIs z.B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer können helfen. Aber auch spezifische Neuroleptika.

In Zusammenwirken mit Psychotherapie lassen sich die Gedanken oft in den Griff bekommen. In fast 80% ohne Rückfall. Empfohlen wird die momentan hochpopuläre kognitive Verhaltenstherapie. Aber auch die klassische Tiefenpsychologie kann helfen.

Es gibt eben sehr viele Ausprägungen und sehr viele verschiedene Zwänge, weswegen es auch viele Therapien gibt. Aber es gibt Therapien. Keiner muss ein Leben lang leiden. Es kann geholfen werden. Das ist eine wichtige Botschaft.

Denn viele Erkrankte behalten ihre Störung so lange wie nur möglich für sich selbst. Verstecken sich. Igeln sich zu Hause ein. Halten das geheim.

Aus gutem Grund. Weil wir alle nicht soviel wissen über diese Störung, sind die Reaktionen meistens wenig hilfreich.

Es hilft natürlich nicht, jemanden auszulachen. Egal wir drollig die Zwangshandlung ist oder wie absurd. Auch die Idee, gemeinsam über dieses Verhalten zu lachen, hilft nicht.

Noch dämlicher ist es, den Betroffenen das ausreden zu wollen. Denn die wissen ja selber ganz genau, dass ihr Verhalten weder normal noch rational ist. Das braucht man nicht zu erklären, das hilft gar nicht.

Und am allerdämlichesten ist ein: Jetzt reiss’ Dich aber ‘mal zusammen! Oder: Lass’ es einfach sein, Du wirst sehen, nichts wird passieren. Oder: Stell’ Dich nicht so an. Oder: Bist Du eigentlich bescheuert – um es komplett auf die Spitze zu treiben.

Denn all’ das geht eben einfach nicht. Wenn es so einfach wäre, wie sich das Lieschen Normalotto manchmal ausmalt, dann hätte die Fernsehserie Monk nur eine einzige Folge und nicht 125.

Bei der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen im Netz gibt es für Betroffene wertvolle Information. www.zwaenge.de – aber mit A und E statt mit Ä. Da gibt es sogar eine Hotline, die einem hilft, einen Therapeuten vor Ort zu finden.

Für heute ist die Sendung zu Ende. Jetzt folgt der seit Jahren ritualisierte Abspann.


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 June 14, 2016  14m