Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0468: Die Pubertät


Ich kann mich nicht an meine Pubertät erinnern. Nicht an die erste Erektion, nicht an das erste Schamhaar und nicht an den ersten Pickel. Und ich glaube, das geht den meisten Menschen so. Denn die Pubertät ist nur ein gedankliches Konstrukt. Pubertierende sind Menschen. Besser wäre es, wir würden diese Idee einfach vergessen.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: By Jmarchn – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38463195
Opener: „Twenty-Seven Year Old Man Hasn’t Reached Puberty“ von The Doctors
Closer: „Louis CK – Hilarious – Part 9 – My 7-Year-Old Is Better Than Me“ von MrToastMuffin
Musik: „Come On Man“ von Outsider / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ich weiß nicht, was mit meinem Sohn los ist. Früher war er so ein liebes Kind und jetzt ist er rotzfrech und bockig. Das ist sicher die blöde Pubertät.“

„Bei meiner Tochter auch. Die verbringt Stunden um Stunden am Telefon. Ich hoffe, diese Phase ist bald vorbei. Das ist so kaum auszuhalten.“

So oder so ähnlich kann man Eltern lamentieren hören, wenn ihre Kinder so zwischen 12 und 18 Jahre alt sind. Es ist eine furchtbare Zeit, diese Pubertät. Da muss der Mensch rebellisch werden und trotzig. Das kommt alles von den Hormonen. Sieht man ja auch an den Pickeln. Die fühlen sich dann unwohl in ihren Körpern. Und deswegen bauen sie auch soviel Scheiße.

Das Menschen aufgrund ihres Hormonhaushalts diffamiert werden, ist ja keine Seltenheit. Frauen kennen das ja auch, wenn ihre Launen auf die Regelblutung zurück geführt werden. Ach, die hat nur PMS. Das bedeutet, in anderen Worten, „die kann man jetzt nicht für voll nehmen.“

Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass es die eben gibt, die Pubertät. Eine Strafe Gottes für die armen, leidgeplagten Eltern. Aber dabei vergessen wir alle, dass das nur ein gedankliches Konstrukt ist. Ein Konzept. Oder, wenn man so will, frei erfunden. Pubertät gibt es nicht. Pubertät sollte man nicht beachten. Und nicht ernst nehmen. Typisch pubertierende Kinder, das gibt es nicht.

Ich habe sieben Jahre lang Konfirmandenunterricht gegeben. Die Konfis sind dabei so um die 13, wenn es losgeht und bis zu 15, wenn diese Zeit vorbei ist. Ich habe also wahrscheinlich an die hundert Menschen kennengelernt, die alle in der Pubertät sein müssten.

Da waren ausgewachsene Frauen genauso dabei wie Milchbübchen. Und es gab die Aufmerksamen, die Gelangweilten, die Anstrengenden und die Unauffälligen. Einige haben prima mitgemacht, andere haben die Zeit mehr erlitten.

Aber langweilig war es nie mit diesen jungen Menschen. Im Kirchenvorstand, wo wir Erwachsene unter uns waren, da war es dafür umso langweiliger. Das funktionierte frei nach Karl Valentin „Das Wichtigste wäre schon gesagt, aber noch nicht von jedem“. Es war nervenzerfetzend langweilig.

Mit den Konfis konnte man faszinierende Gespräche führen über Gott, den Tod, über das Leben oder über den Urknall. Aber auch über Batman, Pokemon oder warum Bubble Tea so greislig schmeckt. Das war immer viel unterhaltsamer als zwei Stunden über die genaue Farbe des Balkongeländers in der Messnerwohnung zu debattieren. Ich muss nur davon erzählen, schon krieg’ ich wieder drei graue Haare!

Das die Pubertät eine Erfindung ist, kann man auch gut daran erkennen, dass es diese angeblich spezielle Zeit in der Adoleszenz nur bei uns im Westen gibt. Keine andere Kultur leidet so an ihren Dreizehnjährigen wie wir. Niemand außer uns hat das je beobachtet. Oder die Bedeutung gegeben.

Wenn man so will, haben wir die Jugend erst vor ungefähr hundert Jahren erfunden. Davor war man ein Kind. Dann folgte ein beliebiger Initiationsritus. Z.B. die Bar Mitzvah, die Konfirmation oder die Firmung und zack – war man erwachsen. Was hauptsächlich hieß, dass man arbeiten musste.

Aber weil unsere Berufe immer komplexer und schwieriger wurden, entstand da plötzlich eine Lücke zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein. Die Jugend ward erfunden! Hurrah! Und statt das die jungen Menschen ihre Zeit hauptsächlich mit Erwachsenen verbringen, bleiben sie in diesem Lebensabschnitt unter sich.

Und kaum ward also die Jugend erfunden, schon rebellierten die irgendwie. Das hatte mit den Wandervögeln vielleicht einen Anfang gefunden, aber wurde dann, nach dem Krieg mit Rock’n Roll erst eine Sache, die alle westlichen Gesellschaften traf.

Irgendwie wollten die jungen Leute nichts mehr mit den alten Leuten zu tun haben. Anders leben als die Alten. Andere Musik hören. Anders tanzen. Anders lieben. Anders leben. Das geht ja wohl so nicht! Nach Rock’n Roll kamen die Hippies, die Punks, der Hip Hop und Techno. Wichtig bei jeder Neuentwicklung: Es durfte den Alten nicht gefallen.

Und weil die Erwachsenen das nicht so toll finden, haben die die Rebellion gleich als normalen psychischen Entwicklungsschritt festgelegt. So wurde aus der Jugend eine Zeit, die nicht mehr frei und unbesorgt war, sondern von Widerstand, Trotz und Rebellion geprägt war.

Man kann sich schon denken, dass diese Vorstellung ihre eigene self forfilling prophecy ist. „Du bist jetzt in der Pubertät, Florian. Das ist eine ganz schwierige Zeit im Leben eines Menschen. Wenn Du immer so jähzornig bist, dann kommt das von Deinen Hormonen. Wir verstehen das, mein Kleiner.“

Da fühlt man sich als Mensch doch gleich für voll genommen. So viel Verständnis der Eltern! Soviel Zuwendung! Ich, Florian, bin also nicht jähzornig, weil ich nicht Games of Thrones kucken darf, sondern wegen meiner Hormone. Na dann. Räume ich halt mein Zimmer auf…

Aber das ist natürlich völliger Humbug. Es sind nicht die Hormone, die für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich sind. Das ist unwissenschaftlich und gleichzeitig diffamierend. Das entmündigt die Menschen zwischen 13 und 18 völlig.

Wenn so ein Pubertierender kämpfen muss für seine Unabhängigkeit, dann ist wohl etwas falsch gelaufen. Aber da stellt sich die Frage: Warum muss er das? Warum ist er nicht einfach unabhängig?

Und wenn er Unsinn anstellt, um Aufmerksamkeit zu bekommen, dann stellt sich die Frage: Warum hat er die denn nicht?

Die Pubertät ist eine Erfindung. Und sie nutzt nur den Eltern. Den denkfaulen Eltern. Wenn man sie erwartet, wenn man sie herbeiredet und wenn man Kinder damit diffamiert, dann hat man in dieser Zeit eben auch Probleme. Aber das liegt nicht an den Hormonen, sondern an der dummen Idee, dass die Pubertät ein natürlicher Entwicklungsabschnitt im Leben eines Menschen ist.

Ich finde es nicht gut, Frauen zu diffamieren, wenn ihnen die Menstruation Probleme macht. Aber genauso falsch ist es, jede Generation zu diffamieren, bloß weil ihnen auf einmal Schamhaare wachsen. Man hat es immer mit einem einzelnen Menschen zu tun. Einem Sohn, einer Tochter. Und deren Hormonhaushalt ist komplett deren Sache und geht uns nichts an.

Dieser eine Mensch ist jetzt da und verlangt zu Recht ernst genommen werden. Das man auf Augenhöhe mit ihm umgeht. Denn genau das steht ihm oder ihr nämlich auch zu. Pubertät gibt es nicht.

Wer dieses Konzept denkt und glaubt, wer nicht auf das Individuum schaut und auf dessen spezifischen Weg durch das Leben, verlangt ja praktisch, dass sich sein Kind anstrengend verhält.

Noch einmal und jetzt alle: Pubertät ist eine Erfindung!


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 June 21, 2016  12m