Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0469: Der falsche Peniskult


Wenn wir als Kinder „Cowboys und Indianer“ gespielt haben, wollten alle immer die Indianer sein. Und die Cowboys waren immer die Bösewichte. Das liegt aber nicht daran, dass wir von dem seltsamen Peniskult der Irokesen gehört hatten. Denn über den lachte man schon über hundert Jahre nicht mehr. Weil es ihn nicht gab.

Download der Episode hier.
Opener: „Russel Peters – Penis Talk“ von Russell Peters Comedian
Closer: „David Allen – Dear Penis“ von skibbereen18
Musik: „On a volé mon penis (2011)“ von EL PROVOCADOR / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Manchmal ist es richtig hartes Brot, so eine Sendung zu machen. Findet ihr einmal Opener, Closer und Illustration für eine Folge, die den Titel „Peniskult“ hat. Ich kann euch nur sagen: Was diese Augen heute gesehen haben, dass war… unbeschreiblich…

Res in media. Die heutige Geschichte fängt so an, wie es eigentlich alle spannenden Geschichten tun sollten. Mit etwas Altem, Seltsamen, Unbekannten, dass zufällig in einer Bibliothek gefunden wird. Der erfahrene Bibliothekar, dem dies geschah, trug den Namen Pierre Lacroix. Und er arbeitete für die Arsenal-Bibliothek in Paris. Im Jahre 1950 fiel ihm eine ominöse, bisher nie gesehene, kleine Kiste in die Hand.

Die mit einem Schloss verschlossen war. Aber der Schlüssel war natürlich im Laufe der Zeit verschütt gegangen. Gut, gell — so muss das natürlich sein in einer guten Geschichte. Monsieur Lacroix greift also im kalten Licht der Gasbeleuchtung des nächtlichen Paris zu einem kleinen Messer und bricht das Schloss kurzerhand auf.

Und findet: Uralte Manuskriptblätter. An die zweihundert Manuskriptblätter. Vergilbt und auch einen Wasserschaden schienen sie schon ‘mal mitgemacht zu haben. Und sie waren voller seltsamer Zeichnungen. Krude Strichmännchen und fremde Symbole und etwas, das wie Buchstaben aussah, aber in einer völlig unbekannten Schrift.

Im Archiv der Bibliothek war über das Fundstück nicht viel zu finden. Man hatte das gute Stück 1785 erworben, es stammte aus der Privatsammlung eines ominösen Marquis. Der das Alter der Blätter damals mit hundert Jahren angab. Das Werk war verzeichnet als „Libre des Sauvages“. Das Buch der Wilden also. Und Wilde, das waren im Jahre 1850 meist die Indianer Amerikas.

Wem könnte man das zeigen? Wer könnte das vielleicht verstehen? Die Wahl des Bibliothekars fiel auf Abbé Domenech. Emanuelle Domenech. Ein hochintelligenter und weitgereister Mann. Schon als junger Pater folgte er dem Ruf der katholischen Kirche von Texas und missionierte dort die Wilden. Auch in Mexiko hatte er lange gearbeitet und galt als der Fachmann für das, was wir heute Amerikanistik nennen würden.

Nachdem dieser die Seiten ausgiebig studiert hatte, kam der Experte zu einem Urteil: Diese Seiten sind die einzigen Belege für die seltsame Bilderschrift der Irokesen. Oder ihres Vorgängervolkes. Und sie dokumentieren eindrucksvoll die Geschichte dieses Volkes.

Er erkannte deutlich Medizinmänner, heilige Geister, Krieger und Totemtiere in den primitiven Strichmännchen. Eine eindrucksvolle Darstellung der indianischen Kultur. Auch der erste Kontakt zu weißen Menschen und die Christianisierung waren hier deutlich zu erkennen. Ein Mann mit einer Bischofsmütze. Eine einfache Kirche. Kreuzsymbole.

Schleunigst begann Abbé Domenech seine Interpretation dieser seltsamen Schrift festzuhalten und zu erläutern. Diese Seiten waren eine Sensation! Nicht nur, dass das ein einmaliger Fund einer zweihundert Jahre alten indianischen Geschichtsschreibung war. Nein, mehr noch. Die nordamerikanischen Indianer hatten eine eigene Bildersprache und die Vorstufe einer Schrift!

Offen gab er im Überschwang in seinem Text zu, dass auch er nicht in der Lage war, diese seltsamen Schriftsymbole zu entziffern. Aber zusammen mit den Bildern sei an manchen Stellen eine Interpretation gestattet.

Da dieser eine Schriftzug, der heißt wahrscheinlich Rum. Denn auf den Bildchen kann man erkennen, dass die Indianer auf einem Beutezug ein Fass erobert hatten. Wahrscheinlich auf einem Floß.

Und dieser Schriftzug, der bedeutet wahrscheinlich „Zorn der Götter“ oder „Blitz“, aber wahrscheinlich beides, so führte er aus. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein Naturvolk handelte! Mhm…

Da wäre dann – räusper – noch ‘was. Die hatten wohl auch eine Art von Peniskult. Denn erstaunlich viele der Strichmännchen laufen mit riesigen erigierten Penissen herum. Einige haben auch riesige Hoden. Und man sieht auch deutlich, wie sie ihre Fortpflanzungsinstrumente in… vieles… Verschiedenes… hineinstecken. Viele Frauen zum Beispiel. Erkennbar an der symbolischen Vagina und den zwei Punkten als Brüste.

Aber auch in andere Männer mit erigierten Penissen. Oder auch schon ‘mal in ein Pferd und in eine Kuh. Alles eindeutige Hinweise auf einen seltsamen Fortpflanzungskult. Auf rituelle Orgien und die Verherrlichung des männlichen Phallus. Ist ja alles nicht ohne Parallelen in anderen Kulturen, aber von den Indianern Nordamerikas war das nicht bekannt.

So einflussreich und begeistert war unser Abbé, dass es ihm gelang, die französische Regierung zu überreden, die Manuskriptseiten als Faksimile zu veröffentlichen und damit anderen Forschern zur Verfügung zu stellen. Denn das war wirklich eine Sensation!

Und das passierte dann auch. 1861 kam das Buch „Manuscrit pictographique américain, précédé d’une notice sur l’idéographie des Peaux Rouges“ Zu deutsch in etwas: „Das piktografische amerikanische Manuskript. Mit einem Vorwort zur Bildersprache der Rothäute.“

Bei der Veröffentlichung waren alle sehr stolz, so ein tolles Ding in Frankreich zu haben. Darum ließ es sich der Innenminister auch nicht nehmen, bei der Pressekonferenz eine kleine Rede zu halten. Und stolz lehnte er sich dabei auch weit aus dem Fenster: „Es sei eben die Grande Nation, Frankreich, die Lehrerin der Völker der Erde.“

Das sorgte auch in den Nachbarländern für Aufmerksamkeit. Speziell in Deutschland war man ja mindestens genauso nationalstolz wie die Franzosen dieser Zeit auch. Schüler des Orientalisten Julius Petzhold machten ihren Professor auf das Buch aufmerksam. Dass sehr zu ihrer Erheiterung beitrug. Nicht nur wegen der notgeilen Strichmännchen.

Petzhold schrieb einen offenen Brief, in dem er sein Urteil über das Buch und die Bilderschrift der Rothäute ausführlich darlegte. In der deutschen Presse. „Diese Seiten sind das Werk von einem gelangweilten Schüler. Und zwar von einem gelangweilten deutschen Schüler. Genauer von einem gelangweilten, deutschen Schüler mit einer schmutzigen Phantasie. Der zudem wohl einen Dialekt spricht und darum ein Haufen Rechtschreibfehler macht.“

Denn unter dem Fass Rum steht in deutscher Sprache gut leserlich das Wort „Honig“. Es handelt sich nicht um ein Fass, sondern um eine Bienenwabe. Und das Wort, dass Abbé Domenech als Zorn Gottes interpretiert hatte, das war – furchtbar falsch geschrieben – eindeutig das deutsche Wort für „Wurst“.

Denn die Schrift, die der Kleine da in seinen Privatporno kritzelte, war die deutsche Kurrentschrift. Die eben vor 200 Jahren in den Schulen gelehrt wurde. Die Vorgängerversion des Sütterlin. Die man aber in Frankreich nie verwendete. Und die zumindest weder der Abbé noch seine Lektoren oder aber der Innenminister Frankreichs kannten oder gar erkannten.

Und es ist auch heute noch deutlich zu erkennen, dass dies ganz eindeutig der Fall ist. Der gute Gelehrte Abbé versuchte seine Interpretation zwar noch einmal zu verteidigen – deutsche Einwanderer und ähnliche Argumente – aber für den weltweiten Spott war gesorgt. Auch die Politik war nicht amüsiert.

Emanulle Domenech zog sich ins ruhigere Lyon zurück und arbeitete in einer kleinen Gemeinde als Pfarrer, bis er 1903 dort, unbemerkt von jeder Öffentlichkeit, verstarb. Das Werk, über das er gestolpert war, existiert heute online. Es ist auf Google Books und auf Wiki Commons in seiner Gänze einzusehen.

Es bebildert halt nicht die Geschichte der Rothäute, sondern die sexuellen Fantasien eines Klosterschülers aus dem 17ten Jahrhundert. Ist ja auch ganz interessant…


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 June 22, 2016  12m