Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0480: Casablanca


Das erste Mal habe ich „Casablanca“ vor 35 Jahren gesehen. Und vor 30 Jahren zum ersten Mal richtig begriffen. Es war ein Kultfilm in meiner Jugend, man musste den gesehen haben. Damit er nicht vergessen wird in den modernen Zeiten der schnellen Schnitte und der Computereffekte hier eine Hommage und dazu eine Erklärung.

Download der Episode hier.
Opener: „Play it, Sam“ von BlauweBarry
Closer: „Here’s looking at you, kid“ von vunvu39
Musik: „As Time Goes By“ von Dooley Wilson / Public Domain Mark 1.0

+Skript zur Sendung
Neulich habe ich frech behauptet, „Das Leben des Brian“ sei der häufigst zitierte Film. Aber natürlich lasst ihr mir so etwas nicht durchgehen. Wie ich denn darauf komme, wurde ich gefragt. Ob es da eine Quelle gäbe. Gibt’s natürlich nicht. Ich habe mir das aus den Fingern gesogen. Und hatte das nur auf die Liste meiner Lieblingskomödien bezogen. Und da gilt das, meine ich, immer noch.

Aber was könnte der meistzitierte Film sein. Ich habe, völlig ohne Recherche, einen neuen Verdächtigen. Einen der üblichen Verdächtigen. Von dem diese Redewendung mit den üblichen Verdächtigen überhaupt erst stammt. Nämlich „Casablanca“, einen der besten Filme aller Zeiten. Allerdings gerät der so langsam in Vergessenheit. Für moderne Betrachter ist er halt zu langsam, zu kitschig oder zu schwarz/weiß. Darum meine Gründe, warum „Casablanca“ so großartig ist.

Grund 1:
Er ist schwarz/weiß. Das ist kein Nachteil, sondern die einzig richtige Wahl für diesen Film. Denn das ist einer der größten Film-noir-Werke, die es überhaupt gibt. Die Stimmung der Bilder ist unbestimmt, bedrohlich gar, die Kamerawinkel sind zum Teil beinahe expressionistisch. Hier ist nicht nur der Schauspieler wichtig, sondern auch der Schatten den er wirft. Oder den die Tür wirft. Oder die Jalousien. Die Welt ist in Casablanca schwarz und weiß. Und das passt perfekt. Denn es geht um Gut und Böse. Und um noch mehr: Um die ganzen Zwischentöne, den Graubereich. Also muss „Casablanca“ schwarz/weiß sein. Ach, würde es doch mehr Filme geben mit Grautönen!

Grund 2:
Er ist nicht nur einer der letzten großen Film noirs, er ist auch ein Triumph des klassischen Hollywood-Studio-Kinos. Er ist das genaue Gegenteil eines Autorenfilms. Man kann nicht sagen, das ist ein Film des Regisseurs Michael Curtiz oder der fünf verschiedenen Autoren, die am Drehbuch bastelten. Oder aber ein klassischer Bogartfilm, denn das ist kein klassischer Bogart hier. Gedreht wurde an drei verschiedenen Orten in verschiedenen Studios, nicht chronologisch, nicht mit höheren künstlerischen Absichten. Einfach ein normaler Studiofilm. Aber dieses Mal passen alle Puzzlesteine perfekt zusammen. Kamera, Bühnenbild, Kostümdesign, Musik, die Filmsongs, das Drehbuch, die Regie. Eine Arbeit von vielen, vielen Profis und nicht das Werk eines einzelnen Genies.

Grund 3:
Es ist ein romantischer Film. Ein Film darüber, dass jede romantische Beziehung enden muss. Darüber, dass es gute Gründe haben kann, nicht sein Glück in der Liebe zu suchen. Sondern, dass man persönliche Dinge manchmal zurückstellen muss. So gesehen ist er das genaue Gegenteil vom „Englischen Patienten“, den ich aus vollstem Herzen hasse. Denn dessen romantische Botschaft ist, dass immer das persönliche Streben nach Glück im Vordergrund zu stehen hat. Und weil wir wissen, dass diese Jagd des Helden zum Scheitern verurteilt ist, macht das den ganzen Film schal und geschmackslos. Und romantisch ist auch, dass aus der zynischen Hauptfigur mit dem gebrochenen Herzen und den verlorenen Träumen dann ein Held wird, wenn er die Chance hätte, zu heilen.

Grund 4:
„Casablanca“ ist ein politischer Film. Das muss man verstehen, das ist wichtig. Denn als der Film gedreht wurde, waren die USA noch nicht in den zweiten Weltkrieg in Europa verwickelt. Es gibt in „Casablanca“ das Gute, das ist der Widerstandskämpfer Victor Lazlo und das eindeutig Böse, das ist Nazideutschland, vertreten durch Major Heinrich Strasser. Damals war Frankreich erobert und geteilt, Deutschland die Großmacht in Europa, aber Amerika verhielt sich weiter neutral.
Und für Amerika steht stellvertretend Rick Blaine, gespielt von Humphrey Bogart. Zynisch, verbittert, er will einfach nichts mit dem ganzen Scheiß zu tun haben. Bis seine große Liebe Ilsa Lund auftaucht, gespielt von Ingrid Bergman. An der Seite seines Rivalen, eben des guten Victor Lazlo. Bislang kennen wir Bogart nur als den Helden, als den Antreiber, den Motor seiner Filme. In „Casablanca“ ist er verbittert und passiv. Krieg hin, Krieg her. Nazis hier, Widerstand her. Kriminelle hin, Kriminelle her. Ist im alles wurst. Er sagt: „”Politik interessiert mich nicht. Die Probleme dieser Welt gehören nicht zu meinem Ressort. Ich bin Besitzer eines Nachtclubs.” Es dauert ein bisschen, bis wir ahnen, dass da in ihm doch noch etwas wie eine Überzeugung ist. Als nämlich deutsche Offiziere in seinem eigenen kleinen Café deutsche Volkslieder anstimmen. Victor Lazlo fordert seine Band auf, die Marseillaise zu spielen. Und mit einem Nicken gibt er die Erlaubnis. Dieses Nicken bedeutet alles. Hier die Szene wie Deutschland Frankreich im Singen unterliegt. Ist eine schöne Audioerfahrung.
/clip Marseillaise
Das ist auch deshalb so eine tolle Filmszene, weil viele der Komparsen Flüchtlinge aus Nazi-Europa waren. Und es ist ein eindeutiges Statement. Rick, also Humphrey, wird sich für eine Seite entscheiden. Er erschiesst Strasser und gibt sein unbezahlbares Ticket in die Freiheit stattdessen seinem Rivalen Victor Lazlo. Denn der Kampf gegen die Nazis ist wichtiger. Das war eine eindeutige politische Botschaft damals.

Grund 5:
Die Schauspieler! Die Schauspieler! Das ist auf jeden Fall der allerbeste Film von Paul Henreid als Victor Lazlo, von Conrad Veidt als Major Strasser und von Claude Reins als Captain Renault. Einer der besten von Humphrey Bogart und von Peter Lorre als schmieriger, aber auch verzweifelter Ugarte. Und ein sehr guter für Ingrid Bergman. Das Casting ist perfekt, selbst Nebenrollen sind gut besetzt.

Und Grund 6:
Ganz im Ernst. In tiefem Ernst. Und ich kenne durchaus die Filme von Tarantino. Aber „Casablanca“ hat die besten Filmdialoge aller Zeiten. In diesem Film kann man kaum ein Wort kürzen. Keines ist verschwendet. Jedes trägt die Handlung, jedes erklärt eine Figur. Wir bauen Beziehungen zu diesen Personen auf. Einige unvergessliche Beispiele, die ihr vielleicht kennt, aber ncht wisst, dass sie aus „Casablanca“ sind:
„Verhaftet die üblichen Verdächtigen!“
„Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
„Spiel’s noch einmal, Sam!“
„Schau mir in die Augen, Kleines!“
„Küss mich, als wäre es das letzte Mal!“
„Welche Nationalität haben sie? – Ich bin Trinker!“
„Vergessen sie nicht, die Pistole ist genau auf ihr Herz gerichtet.“ – „Da bin ich am wenigsten verwundbar.“
„Uns bleibt immer Paris.“
„Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber vielleicht bald und dann den Rest deines Lebens.“
Mein heimlicher Liebling aber ist der Dialog zweier jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland, die fleißig Englisch lernen:
/clip ten_watch


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 July 7, 2016  14m