Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0484: Anna Edson Taylor


Als ich das erste Mal davon hörte, dass sich Menschen regelmäßig in Fässern die Niagarafälle hinunterstürzen, fragte ich mich: „Wer hatte eigentlich als Erster diese Idee?“ Es war Annie Edson Taylor. Und die hatte durchaus Gründe dafür.

Download der Episode hier.
Opener: „Unbelievable Niagara Falls Survival Stories“ von Good Mythical Morning
Closer: „Hank Locklin – Please Help Me, I’m Falling“ von manbehindthescreen
Musik: „Annie (2009)“ von LE GROS MASS / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Wenn man so den Lebenslauf von Annie Taylor anschaut, dann muss man anerkennend sagen: Die Frau, die ist ‘rumgekommen. Sie hat im Laufe ihres Lebens in Chattanooga, Birmingham, in Francisco, Washington, DC, Chicago, Indianapolis, Syracuse und in der Bay City gelebt. Aber die Reise, die sie bekannt gemacht hat, die dauerte gerade einmal 18 Minuten. Und das Verkehrsmittel ihrer Wahl hatte sie auch noch selber konstruiert.

Es war dies am 24. Oktober 1901. Und die Geschichte spielt an den Niagarafällen. Die kennt man, weil in amerikanischen Filmen frisch Verheiratete hin fahren. Oder aus dem Film mit Marylin Monroe. Oder einfach, weil sie so beeindruckend sind. Sie sind halb in Kanada und halb in den USA. Auf jeder Seite gibt es auch einen Ort, der Niagara Falls heißt.

Der Plural im Namen der Niagarafälle rührt daher, dass es drei davon gibt. In den USA die Bridal Veil Falls und die intuitiv benannten American Falls. Aber am bekanntesten sind die Horseshoe Falls, die sich die beiden Nationen teilen. Die haben eine Freifallhöhe von 57 Metern.

Ob man das Spektakel immer noch zu Recht ein Naturwunder nennen kann, das könnte man in der Länge diskutieren. Denn tagsüber stürzen da an die 3000 Kubikkmeter Wasser in der Sekunde die 50 Meter in die Tiefe. Wenn keine Touristen mehr zuschauen, abends, dann wird ein Knopf gedrückt, das Naturspektakel auf die Hälfte gedrosselt, um mit dem Rest Strom zu gewinnen.

1969 hat man auch ‘mal für ein paar Monate ganz abgeschaltet, um die Erosion mit kosmetischen Betoneinspritzern in den Griff zu bekommen. Natur also schon, aber auch Showbiz.

Egal, im Jahre 1901 gab es auf jeden Fall noch keine Knöpfe. Wir sehen also zwei Herren, einer mit Namen Frank Russell, genannt „Tussy“ mit einer älteren Dame in ein Ruderboot steigen. Denn unsere Annie hat schon 63 Lebensjahre auf dem Buckel. Seitlich am Boot befestigt ist ein 1,40 m hohes Eichenholzfass. Entworfen von Annie. Innen abgepolstert und mit einem Spanngurtsystem versehen.

Als sie in der Mitte des Niagara-Flusses treiben, hält das Boot an. Annie entledigt sich ihres Kleids, unter dem sie ihr „Badekostüm“ trägt. Das bedeutet 1901 noch das genaue Gegenteil eines Bikini, geht eher in Richtung Burka. Und sie zieht auch ihren großen schwarzen Hut aus. Sie nimmt ihr herzförmiges Glückskissen und steigt in das Fass, das die beiden Männer für sie halten. Nachdem sie sich darin eingeigelt hat, wird das Fass verdeckelt und mithife einer Luftpumpe noch einmal mit Luft gefüllt. Korken drauf und ab geht die Fahrt.

Da treibt das Fass also auf den Wasserfall zu. Wahrscheinlich denken sich in diesem Moment alle drei: „Ob das eine gute Idee war“? Frank Russell wird es wohl bereut haben, dass er sich von der willensstarken Witwe hat breitschlagen lassen, ihr Manager zu werden. Sowohl Kanada als auch die USA haben ihm angekündigt, sollte Annie nicht überleben, ihn wegen Totschlag vor Gericht zu bringen.

Die steckt jetzt also im Fass und wartet. Sie kann sicher trotz des Taumelns und Drehens ganz gut hören, wie der Wasserfall immer lauter wird. Bis die Strömung kurz vor dem Bruch auf einmal heftig wird und sie mit doppelter Geschwindigkeit durcheinander wirbelt.

Kurz vor dem Sturz können die Zuschauer das kleine schwarze Fass erst erkennen. Russell hatte vorher fleißig Pressemitteilungen verschickt und auch die Anwohner von Niagara Falls interessierten sich für das Spektakel. Dann stürzt das Fass die über 50 Meter in die reißende Tiefe. Und ist weg.

Gab es überhaupt eine Chance, dass ein Fass diesen Sturz überleben kann? Mit oder ohne Insassen, war es nicht wahrscheinlicher, dass es kurz und klein geschlagen wurde? Aber plötzlich taucht es, plopp, wie ein Korken wieder auf. Ein Boot und einige Helfer stehen bereit und machen sich auf den Weg, sobald das Fass wieder in ruhigere Gewässer getrieben wurde. Mit langen Stöcken gabeln sie das Fass auf, öffnen den Deckel und hoffen inständig, die 63jährige Insassin bei Gesundheit vorzufinden.

Annie ist aber nicht nur am Leben, sie ist sogar in der Lage, das Fass selbständig zu verlassen. Ihre ersten Worte sind: „Ich habe jede Sekunde in diesem Fass gebetet, bis auf ein paar Sekunden nach dem Aufprall, in denen ich ohnmächtig war. Nie wieder sollte irgendjemand das wieder machen. Niemals!“

Annie Edson Taylor, Jahrgang 1838, der erste Mensch, der in einem Fass die Niagarafälle überwunden hat. Wir wissen, dass ihr Ratschlag nicht ernst genommen wurde. Bis jetzt gab es schon ein Dutzend Nachahmer. Und das, obwohl es mittlerweile mit hohen Geldstrafen geahndet wird und die Überlebensrate bei knapp 50% liegt.

Von Annie wissen wir genau, warum sie ihr Leben riskiert hat. Ihr Plan war nach diesem Erfolg von dem Ruhm den Rest des Daseins zu leben. Auf solche Ideen kommen Menschen ohne Rente. Sie hatte ihr ganzes Leben nämlich schon immer ein hochmodernes Problem gehabt: Die Ausgaben waren immer höher als die Einnahmen gewesen.

Aus besten finanziellen Verhältnissen stammend kam sie lange mit der Unterstützung ihrer Familie durch. Und auch die dicke Erbschaft hatte bisher immer geholfen. Aber selbst, wenn eine ihrer Unternehmungen gelang, wie 1898 die Tanzschule in Bay City, immer blieb am Ende ein Minus. Sie wusste durchaus, dass sie über den Verhältnissen lebte. Und das ihr aufwendiger Lebensstil das Problem war. Aber trotzdem schmolzen die Reserven immer weiter ab.

Das sollte jetzt anders werden! Schlagartig war sie berühmt. In Niagara Falls war sie eine Heldin, in der Presse in New York aber eher eine Verrückte. Einen ersten Auftritt hatte sie im November bei der Pan-American Exhibition in Buffalo, aber die 200 Dollar Gage deckten nicht einmal die Kosten für ihren Stunt. In einem Kuriositätenkabinett anzuheuern – ihr wisst: Bärtige Damen ohne Unterleib – das war unter ihrem Niveau. Und auch die Vermarktung des Filmmaterials untersagte sie.

So sollte sie schon im gleichen Winter dabei landen, sich in Schaufenstern mit ihrem Fass und ihrer Katze anglotzen zu lassen. Bis sie in Cleveland dann ganz und gar pleite war. Also dachte sich ihr Manager, schnappe ich mir auch noch das Fass und mache mich aus dem Staub!

1902 sollte Annie ihr Fass wiederfinden, in einer Theaterversion ihrer feuchten Reise. Durch den Verkauf ihrer Autobiografie hatte sie dann auch die Mittel, das Requisit der Truppe wieder abzukaufen. Aber bald interessierte sich niemand mehr für die alte Frau mit dem Fass. Ein englischer Teufelskerl namens Bobby Leach hatte ihre Tat wiederholt und schwer verletzt überlebt. Der war erstens ein Mann, ein Teufelskerl, ein Daredevil und zweitens jünger, Annies Geschäftsidee war am Ende.

Sie versuchte sich dann noch als Hellseherin und – als letzte ihrer zahlreichen Geschäftideen – verkaufte den Touristen an den Niagarafällen eine seltsame Elektrotherapie. 1921 war gar kein Geld mehr da und sie musste sich in ein Armenhaus begeben.

Was für eine Lady wie Annie Edson Taylor keine Art war, zu leben. Sie ging ein wie eine Primel und verstarb im April 1921, vergessen von der Welt. In dem Ort Niagara Falls gibt es für die ganzen Sensationsartisten einen Extrafriedhof. Da liegen jetzt auch die Überreste von Annie.

Dem ersten Menschen, der in ein Fass stieg, um die Niagarafälle zu bezwingen. Für ihre Rente. Ein Plan, der sicher funktioniert hätte, wäre sie keine Frau gewesen.Dafür war die Zeit noch nicht reif.


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 July 13, 2016  14m