Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0494: Amok in den Medien


Die Stunden um das Ereignis, dass wir den „Amoklauf von München“ getauft haben, waren intensiv hier in der Innenstadt. Und haben mich wieder zu einem News-Junkie gemacht. Aber, unter uns Betschwestern: Es ist hässlich und peinlich, was wir da in den Medien alle miteinander veranstalten. Kurzer Rant.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: By Martin Falbisoner (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Musik: „Sense in Working“ von Thomas Allan / CC BY-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Jetzt, bei dem Amoklauf vor dem Olympia Einkaufszentrum, hatte ich einen Rückfall. In meine alte Sucht. Der Abhängigkeit von News. Eben ein News-Junkie. Noch 2010 hatte ich jede erdenkliche News-App auf meinem iPhone installiert und habe Stunden verbracht News-Webseiten abzusurfen.

Dann habe ich das alles aufgehört. Denn eigentlich wissen die Medien ja auch selber nicht, was sie da machen. Es war ein Erdbeben in Chile, dass mir die Augen öffnete. In der Tagesschau gab es dazu eine Außenreportage. Der Kameramann entdeckte etwas und zoomte dann auf eine verkrampfte Hand, die da aus den Trümmern ragte. Dann noch der Wetterbericht und danach „Wetten, dass…“ – oder irgengend etwas in der Art.

Und ich war seltsam betroffen. Angerührt. Emotional. Wie wenn diese Hand jemandem gehörte, den ich kannte. Aber diese Betroffenheit war irgendwie schal und falsch. Denn im Allerinnersten waren mir – Hand auf’s Herz – die 500 verstorbenen Chilenen herzlich egal. Nicht nur, dass ich keinen der Toten kannte – ich kenne überhaupt keinen Chilenen. Ich war noch nie in Chile. Ich wollte das überhaupt nicht wissen.

Also. Danach war ich sechs Jahre trocken. Clean. Ich kam ohne News aus. Ohne das dauernde Vibrieren des Telefons. Ohne stundenlanges Abgrasen der Newsseiten, bloß um die gleiche Agenturmeldung immer wieder in ein bisschen anderen Worten zu lesen. Und es ging mir viel, viel besser.

Aber an jenem Freitag war es um mich geschehen. Die allgemeine Panik hatte mich ab 20:00 Uhr fest im Griff. Vielleicht auch, weil dauernd Sirenen vor meinem Fenster vorbeiheulten. Und bis ca. 3:00 Uhr ein Helikopter über Maxvorstadt schwebte. Schlafen war so nicht möglich.

Also verbrachte ich die Nacht auf Twitter. Und es war furchtbar. Meine Timeline besteht dort eigentlich aus sehr tollen Menschen, denen ich mich auch seltsam verbunden fühle, aber da gab’s ja zum Aufregen noch die Hashtags OEZ, Schießerei und München.

Wir haben die Panik mittlerweile so kultiviert, dass es in München gleich zu mehreren Massenhysterien kam. Am Stachus, am Hauptbahnhof und im Hofbräuhaus. In Wirklichkeit musste die Polizei bis 3:00 Uhr ihren Helikopter nicht wegen des Amokläufers hubschrauben lassen, sondern wegen den vielen Falschmeldungen, denen sie nachgehen musste.

Und die sogenannten traditionellen Medien waren auch völlig überfordert. Besonders negativ sind mir wieder mal RTL und die Tagesschau aufgefallen, die mehr oder weniger alles geteilt haben, was sie in den sozialen Medien gefunden haben. Denn das ist mittlerweile eine der wichtigsten Quellen für die geworden.

Wobei Twitter, Facebook und Co eigentlich auch hauptsächlich Videos und Meldungen teilen, teilen und teilen, was sie wiederum auf den traditionellen Medienseiten finden. Es ist ein Teufelskreis. Da taucht zum Beispiel ein Bild des blutigen Olympia-Einkaufszentrums auf, dass alle brav teilen. Auch die Profis. Bloß um eine Stunde später richtig zu stellen, dass die Aufnahme von einer Schießerei aus Südafrika stammt.

Ruhiger wurde es erst langsam, als die bayerische Polizei twitterte, alle sollten doch bitteschön aufhören Bilder und Videos zu posten, das helfe nur dem Täter. Deren Twitteraccount war sowieso der einzige Anker in der allgemeinen Hysterie.

Was man über den Chef der bayerischen Polizei nicht sagen konnte. Der bayerische Innenminister Hermann war sich tatsächlich nicht zu blöd, zu twittern, dass er einen islamistischen Hintergrund vermutet. Mann, Mann, Mann es sollte eigentlich schon Intelligenztests geben, bevor jemand wirklich Minister werden darf, oder?

„Beim Anblick der tollpatschigen Panikmaschine und der sachlichen, digitalen und zwischenmenschlichen Inkompetenz der dusseligen, aufgeregten Eventjournalisten wünscht man sich, der Münchener Polizeisprecher möge Chefredakteur sämtlicher deutscher ‘Legacy-Medien’ werden.“ Schreibt noch Freitag nacht Jan Böhmermann auf Facebook.

Auch noch Freitagnacht brandmarkte “Tagesthemen”-Moderator Thomas Roth gleich alle sozialen Medien pauschal. Diese seien an der Panik und an den Fehlmeldungen schuld. Lustig, dass genau dieser Sender vorher – ohne Zwang – willfährig auch das Südafrika-Foto geteilt hat.

Das Absurde ist ja, dass wir nach all’ den Attentaten mittlerweile ja auch noch die Medienschelte verinnerlicht haben. Es ist unsere Medienkultur schuld. Und das Internet und natürlich die Computerspiele. Das gehört alles, alles jetzt zu dem heimlichen Drehbuch für Katastrophen dazu, an das wir uns alle halten. Es war völlig vorhersehbar, wie der nächste Tag sich gestalten würde.

Politiker, selbst ernannte Terror-Experten, Psychologen und noch mehr Politiker würden sich drängeln, um einen Platz vor den Kameras zu bekommen. Die Billigmedien wie die Bildzeitung würden das machen, was man unter Journalisten „Witwenschütteln“ nennt. Also Berichte von heulenden Betroffenen und Angehörigen drucken oder ausstrahlen.

Die Leere in unseren Köpfen muss gefüllt werden mit Abscheulichkeiten und perversen Details. Aber wir wollen das wohl so. Wir machen das selber so. Es ist ja nicht so, dass auf der einen Seite die traditionellen Medien stehen, die in solchen Momenten ihre komplette Inkompetenz beweisen.

In den modernen Medien wie Twitter und Facebook machen wir User ja alle genau das Gleiche. Wir spiegeln uns, die Netzbewohner und die Medien, wir kopieren uns. Wir drehen uns in einer Endlos-Schleife des Schreckens.

Irgendwo warten dann als nächstes wieder irgendwelche Gesetze auf uns, die solche Dinge dann gleich wieder verbieten wollen. Politische Machbarkeitsphantasien. Weil Sicherheit und Freiheit anscheinend das Gleiche sind. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Für eine Gesellschaft sind Sicherheit und Freiheit das genaue Gegenteil. Mit jedem Gesetz wird per se unsere Freiheit eingeschränkt. Das ist ja auch der tiefere Sinn. Und das gilt schon immer und für alle Gebote, selbst für die 10 Gebote aus den Büchern Mose.

Und nach dem Twitterdreck, dem Facebookdreck und dem Mediendreck – so steht es im Drehbuch – folgt dann der Talkshowdreck und der Erklärbärdreck. Das dauert dann so eine Woche. Bis aller Sinn endgültig und für immer vernebelt ist. Und wieder nichts gelernt ist für uns als Gesellschaft.

Der Täter in München war vor allem eines. Er war ein Mörder. Laut Bibel war schon der dritte oder vierte Mensch in Gottes schöner Schöpfung ein Mörder. Und Mörder sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Alle. Denn wir haben eine uns eingebaute Tötungshemmung.

Es hat gute Gründe, dass ein hoher Prozentsatz an Soldaten von ihrem Einsatzort mit einer post-traumatischen Belastungsstörung zurück kehren. Das sind nicht die Sensiblen oder die Weicheier, das sind normale Menschen.

Es gibt keinerlei Schutz vor Menschen, die wir mittlerweile Amokläufer nennen. Weil es keinen Schutz vor Mördern gibt. Der Unterschied zwischen A und B ist die Menge an getöteten Menschen. Ein gewisser Teil der Bevölkerung ist psychisch krank. Und davon greift wiederum ein kleiner Teil zu Waffen. Das war tatsächlich schon seit Kain und Abel so. Wir werden das Böse niemals besiegen. Niemals. Auch in einer perfekt Überwachungsgesellschaft á la Orwell oder Huxley wird es Mörder geben.

Ich kann die Panik, die Medien – traditionelle und soziale – und uns als Menschen in solchen Situationen nicht mehr begreifen. Das einzige, was vielleicht sein könnte, ist: Nur in Katastrophenfällen entwickeln wir noch den Ansatz eines Gemeinschaftsgefühls. Nur wenn irgendwo Menschen sterben, teilen wir für Momente die gleichen Interessen.

Wir publizieren also eigentlich unser Alleinsein. Und hiermit habe ich auch noch mitgemacht. Aber, ehrlich gesagt, ich empfinde das insgesamt mittlerweile als so widerlich, dass ich mich für mich selber schäme. Wie ich den dritten Anschlag in München, den ich in meiner Lebenszeit mitbekommen habe, vor meinem Handy verbracht habe.

Hallo. Mein Name ist Oliver Wunderlich und ich bin ein News-Junkie. Aber gerade bin ich wieder trocken.


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 August 2, 2016  12m