Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0498: Wie wir uns erinnern


Man sagt, im Alter wird man vergesslicher. Ich kann das bestätigen. Aber, was wollte ich eigentlich erzählen? Ach ja, ich habe eine Sendung gemacht, in der ich versuche zu erklären, wie unser Gedächtnis so funktioniert. Wenn er es euch merken könnt, könntet ihr das ja nachher ‘mal anhören. Würde mich freuen.

Download der Episode hier.
Musik: „The Jazz Woman“ von Astrazz / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung

Hallihallo und willkommen beim… äh..

Jetzt fällt’s mir wieder ein! Explikator! Willkommen beim Explikator! Mann, Mann, Mann, manchmal lässt mich mein Gedächtnis übel im Stich. Das soll ‘mal jemand verstehen, nach so vielen Folgen. Festplattenschaden vielleicht.

“Was ist denn das, womit wir uns erinnern, welche Kraft hat es und woher hat es sein Wesen?“ fragte sich schon einstmals Cicero. Oder Kikero, je nachdem wo ihr Latein gelernt habt.

Aristoteles war sich sicher, dass das Gedächtnis im Herzen sitzt, heute sind wir uns sicher, dass es im Hirn hockt. Irgendwo.

Auch wenn es anscheinend in Organen und sogar Muskeln Prozesse gibt, die so funktionieren, dass man sie fast „Gedächtnis“ nennen könnte, bleiben wir heute beim Hirn. Das ist eine riesige Ansammlung von Nervenzellen. Etwas 100 Milliarden davon. Und jede ist mit anderen Zellen mit bis zu 10.000 Verknüpfungen verbunden.

Aneinander geklebt könnte man daraus einen Nervenstrang von 100.000 Kilometern basteln. Das wäre sicher eine Schweinearbeit. Ich würde mich für so ein Experiment auch nur zur Verfügung stellen, wenn ich eine schriftliche Zusicherung hätte, mein Hirn nachher wieder in einwandfreiem Zustand zurück zu bekommen. (Denn das wäre eine deutliche Verbesserung!)

In den 86.400 Sekunden eines einzigen Tages ist das Hirn heftig am Arbeiten. Denn wir fühlen, hören, sehen, riechen und bewerten ununterbrochen. Auch wenn man nichts riecht, riecht man. D.h. nicht, dass man nicht geduscht hat, sondern, dass das Hirn den Eindruck dieses Geruchs als unwichtig verworfen hat.

Als etwas, das es auf keinen Fall wert ist, erinnert zu werden. Die Mär, die in der Esoterik kursiert, wir würden aaalle Eindrücke speichern und könnten uns durch irgendwelche obskuren Methoden auch alle Impulse wieder ins Bewusstsein holen, ist einfach nicht wahr.

Gut. Wann landet also etwas wirklich im Gedächtnis. Da würde ein moderner Hirnforscher antworten: In welchem, bitte schön? Denn wir haben viele Arten von Gedächtnis. Das wird noch kompliziert. Sehr kompliziert. Darum bleiben wir bei einem einfachen Modell.

Zurück erst einmal zu den 100.000 km Nerven. Die liegen da also völlig verknuddelt und vernetzt in unserem Schädel. Und durch diese Bahnen fließt so etwas wie Strom. Wenn eine der Nervenzellen einen Impuls bekommt, dann wird sie aktiv, oder auch nicht. Je nach Stromstärke und eigenem Widerstand. Falls sie aktiv wird, dann feuert sie – so nennt man das – und leitet den Impuls an alle ihre Nachbarn weiter.

Und die entscheiden sich dann auch – rein elektrisch sozusagen– den Impuls weiterzuleiten oder auch nicht. So eine Momentaufnahme einer der Erlebnisse des Tages zeichnet dann ein sehr komplexes und dreidimensionales Netz, verteilt über weite Bereiche unseres Hirns. Wie astlose Baumkronen wird das dargestellt. Wenn das Netz jetzt verarbeitet werden will, beginnt ein längerer Behördengang.

An der Pforte steht erst einmal das sogenannte sensorische Gedächtnis. Das ist wie Dory aus „Finding Nemo“. Das heftet gewisse Paketanhänger an das Reizmuster. Es analysiert die Eindrücke, versucht Muster zu erkennen, benennt im Vorfeld die Merkmale des Erlebten. Frisch gelabelt wird das nun weitergeleitet an das Kurzzeitgedächtnis. Und an der Pforte, von Dori, sofort vergessen.

Mit frischen Labels versehen zur leichteren Verarbeitung ist jetzt das Päckchen beim Kurzzeitgedächtnis. Die nächste Entscheidungsinstanz. Hier gibt es die Wahl zwischen dem schnellen Vergessen oder dem erst einmal in Erinnerung behalten. Oder auch die Möglichkeit, das Päcken mit dem Stempel „Dringend“ versehen, an das Langzeitgedächtnis weiterzuleiten.

Zwischengespeicherte Inhalte können aber während ihres Aufenthalts durchaus hochgestuft werden. Wenn man einmal einen Akkord auf der Gitarre gespielt hat, hängt dieser coole Trick im Kurzzeitgedächtnis. Macht man das zweimal, dann wird das neuronale Netz verstärkt. Die Verbindungen zwischen den Akkord-spielenden Gehirnzellen werden sozusagen dicker.

Und wenn man sein Instrument brav und oft übt, dann wird der Akkord weitergeleitet an die nächste Instanz. Ans Langzeitgedächtnis. Je länger man etwas lernt, desto weniger muss man darüber nachdenken. Autofahren wäre unmöglich, wenn man sich jedes Mal überlegen müsste. „Kasperl bumst Gretel – also Kupplung, Bremse, Gas – ach, das mittlere Pedal bremst!“ Das könnte sonst beim Bremsen zu knapp werden.

Das Langzeitgedächtnis kann man wiederum auch differenzieren. Der Gitarrenakkord und das Bremsen im Auto, das kommt in das prozedurale Gedächtnis. Da liegen auch schon Tanzen, Radlfahren, Ballspielen und mit Messer-und-Gabel-Essen rum.

DaNEBEN gibt es das sogenannte deklarative Gedächtnis, auch Wissensgedächtnis genannt. Und das teilt sich nun wieder – aber ich verspreche, das war’s dann. Da wäre zum einen das semantische Gedächtnis. Das merkt sich das rein Faktische. So Sachen wie: Schwerin ist die Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, Batman ist Bruce Wayne und der Explikator ist der beste Podcast der Welt. Nüchterne Fakten halt.

Und das episodische Gedächtnis. Da wird alles gespeichert, wo wir selber drin vorkommen. Der erste Kuss, das Gesicht vom Jens Peter, oder „Weißt Du noch damals, als ich die Wandlampe montiert habe und die Sicherung noch drinnen war“ oder, manchmal, die Verleihung des Nobelpreises.

Das ist das momentan gängigste Modell, aber es gibt noch viele andere, es ist kaum zu überblicken. Wir wissen aber mittlerweile, dass das Gedächtnis keinen festen Ort im Hirn hat. An jeder Erinnerung sind verschiedene Hirnareale beteiligt. Ein Eindruck ist also ein komplexes neuronales Netz, dass an vielen Orten im Hirn gleichzeitig entsteht.

Gedächtnis verstärkt praktisch nur die Verbindungen zwischen den Neuronen dieses spezifischen Netzes. Macht die Straßen breiter, oder – schon ein bisschen näher an der Wahrheit – setzt den Widerstand herunter. Wird nun ein bestimmter Teil des Netzes wieder getriggert, leuchtet eben leichter das ganze Netzwerk wieder auf.

Darum kann einen der Geruch von Erdbeeren an die Jugendliebe erinnern und der Geruch von Popcorn an Elefanten. Fragt nicht, ist eine lange Geschichte.

Das klingt soweit alles sehr elektrotechnisch, aber ein wesentliches Element fehlt noch. Das ist die Emotion. Ist ein Endruck sehr stark, wie z.b. man wird gleich vom Trekker überfahren, dann kann der Pförtner, das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis auslassen und das traumatische Erlebnis landet sofort im Langzeitgedächtnis. Weil alle Nervenbahnen dieses neuronalen Netzes glühen.

Und auch im Kurzzeitgedächtnis spielt die Emotion eine Rolle. Nicht nur, dass der Gitarrenschüler, der lieber übt auch seltener üben muss. Beim Lernen zählt, wie gerne wir das tun. Ich habe mir in der Schule immer erzählt, wie unnötig und langweilig Mathematik doch ist. Weswegen mein Kurzzeitgedächtnis das Integrieren nach vier Wochen weggeworfen hat. In Geschichte war ich Feuer und Flamme, weswegen ich mich heute noch an ganz spezifische Unterrichtsstunden erinnern kann.

Das ist ja auch der Grund, warum viele Studenten illegalerweise Ritalin schlucken. Wegen der erhöhten Aufmerksamkeit, also der höheren Stromstärke im Gehirn – sehr laienhaft ausgedrückt – wird das Gehörte leichter erinnert.

Das ist alles soweit eine These, oder eine Sammlung aus vielen Thesen. Sozusagen das Standardmodell des Gedächtnisses. Aber vieles ist völlig unklar. Was ich gerade eben im Opener vorgespielt habe, das nennt man einen Black Out. Man hat irgendetwas schon 498 Mal gemacht, aber plötzlich ist es – wusch – weg.

Wie das nun wieder geht, das weiß kein Mensch. Oder der Entdecker hat’s schon wieder vergessen.

 


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 August 8, 2016  13m