Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0515: Die Kanal-Krokodile


Es gibt viele Phobien rund um das Thema Toilette. Und manche Phobien sind natürlich in hoehem Maße irrational. Andererseits: Wenn in New York tatsächlich Krokodile im Kanalsystem leben, dann könnten die doch… Von einer sehr bekannten urban legend. Deren Geschichte vielleicht in Hamburg, Germany beginnt.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: Sewer alligator on the Monster-Wikia
Opener: „Alligator (1980) – Trailer“ von AussieRoadshow
Musik: „QUEEN BEE (2012)“ von MISSISSIPPI ALLIGATORS / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Es ist schon lange her. Ich war noch ein kleiner Junge. Da entwickelte ich plötzlich diese Angst… Nein, lasst mich das anders erzählen. Da entwickelte ein Freund von mir… Ein Bekannter von einem Freund von mir auf einmal diese irrationale Angst, dass ihn aus dem Klo heraus etwas angreifen könnte. Beim Draufhocken würde das Monster ihm in die bleichen Pobacken zwicken. Mindestens. Darauf hatte ich… Der Bekannte von meinem Freund eine Zeit lang eine schlimme Verstopfung.

Ja, ja, lacht bloß! Aber das ist keine Kleinigkeit! Das ist eine weit verbreitete Phobie. In Japan zum Beispiel gibt es den Kuroté, ein hoch-spezialisierter Geist. Dessen schwarze Hand ergreift den ahnungslosen Toilettenbesucher und zieht ihn in die Sickergrube! Aus Gründen.

Und erst dieses Jahr im Mai ist ein Mann in Thailand auf dem Klo von einer riesigen Python in sein Dings gebissen worden! Jawohl! Zugegeben, seit ich im zweiten Stock… Seit der Bekannte von meinem Freund im zweiten Stock eines Mietshauses in einer großen Stadt wohnt, ist diese Angst wie weggeblasen.

Aber auch große Städte bieten eigentlich keinen Schutz. Ich habe keine Statistik gefunden, ob diese Form der Phobie in New York besonders ausgeprägt ist. Denn da leben, wie jeder weiß, ja Krokodile im Kanalsystem. Und da kann’s schon sein, dass so ein Reptil ‘mal die Röhren hochkriecht und dann…

Aber natürlich ist das eine urban legend. Ein Mythos! Völliger Humbug! Völlig unwissenschaftlich! Und so eine naturwissenschaftliche Erklärung nimmt ja auch Phobien sofort und schlagartig weg, wie wir alle wissen. Selbst, wenn so eine Geschichte so weit verbreitet ist wie die sogenannten „sewer alligators“.

Diese Kreaturen kommen nicht nur in den Simpsons, in Futurama, in Tom & Jerry, in den „Pinguinen von Madagascar“ oder in Batman-Comics vor – dessen Gegner „Killer Croc“ eigentlich selber so ein Klokrokodil ist. Nein, genau genommen sind Michelangelo, Raffael, Donatello und Leonardo ja selber solche Wesen. Nicht die Renaissance-Maler. Die „Teenage Mutant Hero Turtles“. O.k. Das sind Schildkröten. Aber im Kanalsystem mutierte Schildkröten!

Egal. Andere Frage: Hat diese verbreitete Geschichte einen historischen Hintergrund? Einen wahren Kern? Und ich hätte da eine Theorie zu bieten.

Nehmen wir zuerst einmal an, dass die oben beschriebene Phobie nicht super selten ist. Phobien rund um’s Kacken und Pinkeln sind alles andere als selten. Jeder zweite Mensch, den ich so kenne, hat bei fremden Toiletten nicht spontan Lust, mal so richtig einen wegzudrücken.

Ein empfindliches Thema. Durchaus. Und dann erschien 1959 ein Buch namens „The World Beneath The City“, von einem gewissen Robert Daley. Hier beschreibt er die Geschichte eines Kanalarbeiters, der sich zu Tode erschrocken hat, als auf einmal, im Kanal, ein riesiges Albino-Krokodil gemächlich auf ihn zuschwamm. Wochenlang wurde das gejagt, aber nie gefangen.

Und er bietet auch gleich eine These. Mitte der Fünfziger verkauften Souvenir-Shops in Florida gerne Baby-Alligatoren an die Touristen. Die konnten dann versuchen, diese zu Hause aufzuziehen. „Ui, Papi, kann ich so ein Kroko-Baby haben? Das ist ja so süß!“

Doch ab einem gewissen Alter, wenn sich zum Beispiel die bis zu 80 spitzen Zähne entwickeln, ist das Reptil nicht mehr sooo drollig und erleidet das gleiche Schicksal wie vorher die toten Goldfische oder Huey, der Hamster. In die Toilette und abgezogen!

Doch Alligatoren können ja bekanntermaßen schwimmen und tauchen. Und so landen sie in den Kanälen. Hier ist es warm und geschützt. Ideale Lebensbedingungen. Und da leben sie von Ratten und Obdachlosen. Und wachsen. Und wachsen…

Und weil da kein Licht ist, wurden sie weiß und bekamen rosa Augen. Und wegen der ganzen chemischen Dämpfe mutierten sie und wurden riesengroß! Wieder Zeit für das Soundboard.
/ Dramatic sound
Obwohl das ja, wenn man darüber nachdenkt, für den Bekannten von meinem Freund beruhigend sein müsste. Das die so groß sind. Passen ja dann nicht mehr durch’s Klo.

Die Geschichte ist aber tatsächlich noch zwanzig Jahre älter. Teddy May heißt der Mann, der für dreißig Jahre der Commissioner of Sewers in New York war. Und der hatte ein ganz anderes Problem, dem er Herr werden sollte. Die sogenannten Sewer Walkers. Obdachlose, die sich das riesige Kanalsystem zur Wohnstatt ausgebaut hatten. Die sollten in den Dreißigern da vertrieben werden.

Er selber hatte, nach mehreren Sichtungen durch seine Arbeiter, mehrere 60 cm große Alligatoren im Licht seiner Taschenlampe entdeckt. Zwei Jahre benötigten er und sein Team, um diese Plage loszuwerden. Man benutzte vergiftete Köder, flutete die Nebenkanäle, um die Babyreptilien auszuspülen und erschoss sie schließlich einfach. 1937 vermeldete er stolz, dass die Kanalisation von New York alligatorfrei sei.

Forscher, die sich mit Reptilien und Amphibien auseinandersetzen, nennt man Herpetologen. Und die sind einhellig der Meinung, dass Alligatoren in der Kanalisation nicht lange überleben können. Sie brauchen es das ganze Jahr warm. In New York friert es aber im Winter. Das Wasser selber ist auch so giftig, dass tierisches Leben nicht möglich ist. Es gibt im Kanalsystem z.B. auch keine Fische.

Ich glaube ja, dass die Geschichte noch älter ist. Und eigentlich aus Hamburg stammt. Aus dem Jahre 1888, to be exact. Aus der Gründerzeit. Wie der menschenfressende Baum letzter Woche übrigens auch. Denn da gab es tatsächlich Krokodile im Kanalsystem. Na ja, eigentlich in der Elbe. Aber die Hamburger Siele – ältestes Kanalnetzwerk Kontinentaleuropas – hingen mit der Elbe zusammen.

Es war in Europa in Mode gekommen, dass Großstädte sich mit Zoologischen Gärten schmückten. Und es gab natürlich auch einen innerdeutschen Wettbewerb um den schönsten Zoo. Ist ja heute noch so. Wo man auch hinkommt, jede Stadt glaubt, sie hätte den schönsten Zoo. Obwohl das ja ganz objektiv Hellabrunn ist, hier in München.

In Berlin fing man bescheiden an. Straußenvögel, afrikanische Antilopen und die obligatorischen Elefanten müssen dem Publikum erst einmal reichen. In Frankfurt war man einen Schritt weiter. Erstens hatte man da Löwen und Tiger, was ja schon ziemlich cool war. Aber vor allem hatte man ein Affenhaus, dass die Besucher in Scharen anlockte.

In Hamburg aber war der Umschlagplatz für die ganzen wilden Tiere. Man selber hatte noch keinen nennenswerten Zoologischen Garten, der sollte erst 1907 seine Tore öffnen. Es gab nur Carl Hagenbeck’s Handels-Menagerie, damals am Pferdemarkt angesiedelt.

Am 19. August legt also in Hamburg die „City of Lincoln“ an. An Bord sind 29 Krokodile, die auf die verschiedensten Tiergärten Europas aufgeteilt werden sollten. Doch, wie es in solchen Geschichten halt immer der Fall ist: Etwas passiert. Der eingeteilte Wächter füttert die wertvolle Fracht, schließt die Käfigtüren, aber vergisst das Absperren. Als er den Fehler bemerkt, sind bereits 13 Tiere in die Elbe entfleucht.

Am folgenden Tag warnt die Hamburger Polizei die Bürgerschaft. Per Anschlag. Das hat jetzt nichts mit Terror zu tun, das war einst so eine Art Facebook oder Twitter damals, ok?
„Baden in der Elbe ist nicht mehr sicher! Krokodile in Hamburg!“
Und wenn sie schon in der Elbe sind, dann können sie doch auch in der Kanalisation sein, oder?

Allerdings lassen sich keine Zeugnisse finden, die von einer Panik in Hamburg berichten. Obwohl die Tiere nie mehr aufgetaucht sind. Zwei wurden einmal gesichtet, aber nur eines wieder gefangen. Bleiben 12. Vielleicht gibt es deren Nachfahren immer noch in den 900 km Sielen unter Hamburg? Und vielleicht sind sie auch weiß? Mit rosa Augen? Und krabbeln hoch in die Toiletten?

Moment, Soundeffekt: /Clip Who cares.
Oops, das war der falsche…


fyyd: Podcast Search Engine
share








 August 31, 2016  14m